Architektur im Licht der Landschaft – Ein Beitrag in "bauhaus" 6 von Regina Bittner

- Le Corbusier setzte einen baulichen Meilenstein nach dem anderen – in die Landschaft und in die Architekturgeschichte der Moderne. Dafür wurde er gehasst und geliebt. Ob zu Recht, damit haben sich eine Ausstellung im Museum of Modern Art in New York und Regina Bittner beschäftigt
An einem Hang in Poissy, wo die betuchte Pariser Bourgeosie schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Zuflucht vor den Anstrengungen der Metropole suchte, schwebt mit der Villa Savoye ein Meilenstein der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Erdacht hat diese auf Stützen (Pilotis) stehende Box Le Corbusier. Sie kann inzwischen als paradigmatisch für seine Fünf Punkte zu einer neuen Architektur gelten. Während die Öffnungen und Symmetrien der Fassaden jegliche Vorstellungen von vorn und hinten aufhoben, erschließt sich das differenzierte Raumprogramm erst durch den ›Architektonischen Spaziergang‹: von der Eingangshalle im Erdgeschoss über die Rampe zu den Terrassen bis zum Solarium auf dem Dach. An diese innere Infrastruktur sind die Dienst- und Wohnbereiche angegliedert. Der Grundriss ist frei gestaltet, da das Haus durch Verwendung von Stahlbeton keine tragenden Mauern mehr benötigt. Dasselbe gilt für die Fenster: Entlastet von der tragenden Funktion, wird ihre Anlage von den Aussichten bestimmt, die man von innen hat. Dieser ›schwebende Kasten‹, wie ihn der Architekt selbst beschrieb, wies allerdings erhebliche bauliche Mängel auf: Der Briefwechsel mit der Hausherrin Eugénie Savoye gibt Auskunft über die Nässeschäden auf den Terrassen, Risse in der Rampe, Schäden an den Wänden. Der Architekt schien wenig Interesse an diesen Details zu zeigen – schließlich feierte die Villa bereits internationale Erfolge.
Le Corbusier schlug 1929 in einem Vortrag in Buenos Aires eine Siedlung vor, die aus zwanzig Repliken der Villa Savoye bestehen sollte.[1] Drei Jahre später wird sie in der Ausstellung The International Style im MoMA, New York, präsentiert. Die hier gezeigten Bauten sollten für einen neuen Stil stehen, der sich an drei Prinzipien ausrichtet: einer Architektur als umschlossenen Raum, die von modularer Regelmäßigkeit sowie der Vermeidung von aufgesetzter Dekoration bestimmt wird. Eine universelle, an formalen Kriterien orientierte Ästhetik wurde propagiert, die die lokalen Kontexte der Bauten vollkommen ausblendete. Schon bald erfuhr diese Reduktion einer – in der Realität äußerst heterogenen – modernen Architekturkultur auf wenige formale Merkmale eines ›International Style‹ heftige Kritik. Lediglich bei der Einordnung des Œuvres von Le Corbusier in eine solche Lesart regte sich lange Zeit wenig Widerstand. Schließlich hat er wie kaum ein anderer nach radikalen Formulierungen für Bauten und Städte im Maschinenzeitalter gestrebt. Für seine technokratischen Stadtvisionen wurde er gehasst, sein Name steht bis heute als Apotheose für die Verfehlungen des modernen Urbanismus. Er zählt zu den Ausnahmefiguren des 20. Jahrhunderts, die bereits rund um den Globus unterwegs waren, als der ›globale Stararchitekt‹ noch nicht einmal geboren war. Bei dieser – dank Innovationen in Transport und Verkehr möglich gewordenen – Neuvermessung der Welt schienen dann auch Fragen von lokalem Kontext und Ortsspezifik den Architekten nur noch wenig zu kümmern.
In diesem Sommer hat das MoMA in New York nun eine Ausstellung initiiert, die eine Revision des Werks des ersten global architect versucht. Le Corbusier: An Atlas of Modern Landscapes (15. Juni bis 23. September 2013) trat den Nachweis an, dass im Werk des Architekten das Konzept der Landschaft eine herausragende Rolle gespielt hat. Im Dialog der Architekturen, Zeichnungen, Skizzen und Gemälde Cobusiers wurde aufgezeigt, wie zentral das Motiv der ›landscape‹ seine kompositorischen Strategien beeinflusst hat.
Galt der Architekt lange Zeit als Vorreiter globaler Architekturproduktion, so wollten die Kuratoren Jean Louis Cohen und Barry Bergdoll mit diesem Zugang einen Le Corbusier vorstellen, der in seinen Bauten das Besondere und Distinkte in Auseinandersetzung mit universellen Modernisierungen herauszuarbeiten sucht. Mediterrane Landschaften, vernakuläre Architekturen, Fundstücke, Postkarten, Luftaufnahmen bilden einen visuellen Baukasten, die die Bauten Le Corbusiers in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Wenn sich ›landscape‹ in Poissy aus der Überlagerung von Schichten – dem umgebenden Park und durch horizontale Fensterbänder gerahmte Sichten auf das Seinetal – zusammensetzt, so trifft dieses Konzept auf die Kapelle in Ronchamp in wesentlich komplexerem Sinne zu. Das nachts illuminierte Gebäude samt wundersamer Marienstatue erhebt sich über einem Tal, das den Architekturtourismus gerade erst entdeckt. Trotz mehrfacher Zerstörung der früheren Kapelle auf dem Berg – die letzte fiel ins Jahr 1944 – konnte die Statue gerettet werden. Bei den Debatten um den Wiederaufbau in den Fünfzigerjahren fiel der Name Corbusier – trotz heftiger Kritik an seiner Unité d’Habitation in Marseille. Zudem antwortete der Architekt mehrfach auf Anfragen der Kirche, er sei nicht daran interessiert, für eine ›tote Institution‹ zu arbeiten. In Ronchamp schien alles anders: ein Genius Loci war allgegenwärtig, den der Architekt selbst zur Eröffnung der Kapelle beschwor: »There are places that are sacred and we don’t know why: because of the site, the landscape, the geographic situation, the political tension which surround them …« [2] Inspiriert von der Form einer Muschel, die am Ostportal zitiert wird, breitet sich eine Betonschale über das Gebäude.[3] In Ronchamp vermischen sich die imaginären ›landscapes‹ des Architekten mit den geografischen Gegebenheiten des Ortes und den spirituellen Räumen des Glaubens – und manifestieren sich in einer kompositorischen Strategie der radikalen Abschaffung räumlicher Hierarchien. Wesentlich konsequenter als noch in Poissy hat Le Corbusier in Ronchamp die Erosion der gewohnten Unterscheidungen zwischen Vorder- und Rückseite, Innen und Außen vorangetrieben. Am sichtbarsten wird dies wohl am Chor: Hier übernimmt die in eine Glasvitrine gefasste und für den Genius Loci so zentrale Marienstatue eine Mittlerinnen-Rolle zwischen Innenchor und Außenchor, Kirchenraum, Wallfahrtsort und Naturraum.
So mag die Entdeckung der Landschaft im Werk Le Corbusiers einen Beitrag zur einer Architekturtheorie leisten, die sich mit den Besonderheiten des Architektonischen befasst, mit dem Unterschied vom gewöhnlich Gebauten. Die MoMA-Ausstellung reiht sich in die gegenwärtigen Bemühungen ein, dem Eigensinn und der Materialität der Architektur gegenüber einer nur am Symbolischen bzw. Programmatischen orientierten Architekturtheorie mehr Anerkennung zu verschaffen. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, ob Le Corbusier ein geeigneter Kandidat für diesen Perspektivwechsel ist.
Schließlich handelt es sich um einen Architekten, der sich selbst als Gesellschaftsgestalter in einer Zeit entwarf, in der viele Architekten ihre Bauten als Instrumente der gesellschaftlichen Transformation verstanden und dafür alle Register zogen. Lange Zeit wurde Le Corbusier an diesem Anspruch gemessen und die dahinter liegenden kolonialen Fantasien, autoritären Ordnungsvorstellungen oder mediengesteuerten Entwurfsstrategien reflektiert. Hatte eine solche Architekturgeschichte die Moderne fortgeschrieben, in dem sie ihre Protagonisten nicht aus dem selbst gesetzten Anspruch entließ? Die MoMA-Schau jedenfalls scheint sich für einen Le Corbusier zu interessieren, der vor allem ein großartiger Baumeister war. Ob das genug ist in einer Zeit, in der ebenso die Unter- und Oberseiten des Gebauten, die Materialflüsse und Geldströme, die Erdbewegungen und Leibeskräfte, die Infrastrukturen und Gebrauchsweisen, die Deutungsdebatten und Medienfeldzüge zum Verständnis des Architektonischen herangezogen werden? Die Karriere der Villa Savoye als Wohnhaus war nur von kurzer Dauer. Als Demonstrationsbau architektonischer Prinzipien war sie zum Wohnen ungeeignet, fand aber als ›iconic house‹ Beachtung. So hätte – bei allem Respekt für die Wiederentdeckung der Gravitationskräfte in den Bauten Le Corbusiers – auch deren mediale Bewegung herangezogen werden müssen, um zum Wesen der modernen Architektur und eines ihrer herausragendsten Vertreter vorzudringen.
[1] Beatriz Colomina, Le Corbusier and Photography, in: Assemblage, Nr. 4, Oktober 1987, S. 12.
[2] Zit. nach: Jean Louis Cohen, In the Cause of Landscape, in: ders., Le Cobusier. An Atlas of Modern Landscapes, New York 2013 S. 40.
[3] Siehe dazu Niklas Maak, Der Architekt am Strand, München 2010.